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Sonntag, 15. November 2015

Täglich grüßt der Oberindianer

Kürzlich hat mich ein alter Freund besucht, den ich viele Jahre nicht gesehen hatte. Er zeigte sich sehr erfreut über meine Lebensumstände. Das Haus fand er annehmlich, den Garten nett verwildert und die Kinder wohlgeraten. Auch unsere dörfliche Umgebung scheint es ihm angetan zu haben, wenn sie ihm, der seit vielen Jahren in einer größeren ostdeutschen Stadt lebt, auch merkwürdig still vorkam, ja geradezu geisterhaft. Dieser Eindruck kann durchaus entstehen, wenn man an einem Vormittag unter der Woche durchs Dorf spaziert, während die Pendler außer Haus und die Kinder in der Schule sind und oft nicht mal ein Rasenmäher den ländlichen Frieden stört. Wenn man den Spaziergang dann noch ausdehnt in den angrenzenden Wald, der im Herbstlicht wie mit Gold durchwirkt erscheint, kann sich sogar das Gefühl einstellen, in einer anderen Welt zu weilen, den Zeiten enthoben.

Weil mein Freund uns für mehrere Tage beehrte, durfte er sich zwangsläufig auch in unseren Alltag integrieren, das heißt etwa den Kindern vorlesen, im Hort Laternen für den Umzug basteln helfen oder uns auf einem Besuch bei den syrischen Flüchtlingen begleiten. Er ging mit, als ich unseren Sohn vom Kindergarten abholte, und äußerte sich auch dort lobend, wie hell, sauber und freundlich alles sei. Eines aber befremdete ihn, oder genauer gesagt zwei Dinge: nämlich die Porträtfotos im Eingangsbereich. Mir fallen sie gar nicht mehr auf, so sehr habe ich mich an die beiden Bilder gewöhnt.

Wer das denn sei, wollte mein Freund wissen, und ich erklärte ihm, dass es sich bei den Herren auf den Fotos um den Präsidenten der Republik und unseren Landeshauptmann handelt. In Anzug und Krawatte, der eine mehr gestrenge, der andere etwas freundlicher dreinschauend, ruht ihr väterlicher Blick tagtäglich auf allen, die diese Kinderbetreuungseinrichtung betreten. Und nicht nur diese, denn auch in der Volksschule hängen ihre Porträts, und ich vermute, in den anderen Kindergärten und Schulen des Landes ebenso.

Als ich die Fotos nun mit den Augen meines Freundes ansah, fand ich sie auch befremdlich. Wir waren seinerzeit groß geworden, ohne die Bilder unserer bundesdeutschen Landesväter täglich vor Augen gehabt zu haben. Sowas kannte man nur aus Ostdeutschland, aus der DDR, wo das Konterfei Erich Honeckers allgegenwärtig war. Die DDR ist vor mehr als einem Vierteljahrhundert untergegangen. Aber womöglich, dachte ich, leben wir hier in einer anderen Welt, den Zeiten enthoben.

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