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Montag, 2. November 2015

Martin Luther aß keinen Kürbis

Heute habe ich einen Kürbis entsorgt, der zwei Wochen lang von unserer Türschwelle Besuchern entgegengegrinst hatte, anfangs noch als lustiges Halloween-Gesicht mit großen Augen, Nase und Zackenmund, doch die Verwesung hatte den orangen Strahlemann erschreckend rasch in eine Fratze des Todes verwandelt, in ein Memento mori, wie kein Künstler des Barock es sich schauriger hätte ausmalen können. Das eben noch leuchtende Fruchtfleisch starrte schwarz aus dem eingefallenen Maul, die Schale verschrumpelt und mit grünlichen Flecken übersät, und die einst pralle Rundung war zu einem formlosen Haufen zusammengesunken, in dem ein Friedhofslicht verzweifelt gegen den Erstickungstod anflackerte. In diesem letalen Zustand dürfte unser Kürbis auch die Kindergrüppchen empfangen haben, die jeden Vorabend von Allerheiligen in gruseliger Gewandung und makabrer Maskerade durchs Dorf ziehen und an den Türen - unter Androhung von Saurem - nach Süßem verlangen.

Als ich nach Schleinbach zog, war mir dieser Brauch noch unbekannt gewesen. Wohl hatte es im Ostwestfalen meiner Kindheit etwas Ähnliches gegeben: das Martinssingen, bei dem ebenfalls Minderjährige in Kleingruppen von Haus zu Haus zogen und, Lieder intonierend, den Bewohnern Plastiktüten hinhielten, auf dass sie diese mit Süßigkeiten füllten. Die Lieder priesen den protestantischen Propheten Martin Luther, und ich erinnere mich, dass ich als Angehöriger der katholischen Diaspora hin und her gerissen war zwischen meinem tradierten Glauben und dem Wunsch, eine Tüte voll süßer Sachen heimzutragen. Ein bisschen beneidete ich die Kinder unserer türkischen Mitbürger, die, offenbar unangekränkelt von solchen Skrupeln, dem Schwan von Wittenberg aus voller Brust den Lobpreis sangen.

Unsere Kinder von heute haben es da einfacher. Der Slogan "Süßes oder Saures" sollte mit jeder Konfession kompatibel sein. Zwar gibt es in unserem Dorf welche, die nicht Halloween gehen dürfen - weil das "kein Brauch von uns" ist, wie mir ein Vater erklärte, sondern ein aus Übersee importierter -, aber das scheint eine verschwindende Minderheit zu sein. Auch in diesem Jahr zu "All Hallows' Eve" sah man wieder Scharen von Gespenstern, Hexen, Zombies und anderem Gelichter auf den Gehsteigen, bleich geschminkt und mit prall gefüllten Sackerln. Ich hoffe nur, sie haben sich nicht allzu sehr vor unserem verschimmelten Kürbis gegraust.

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