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Freitag, 11. Dezember 2015

Auf der Rückseite der Pyramide

Ein Samstagnachmittag Anfang Dezember. Durch einen glücklichen Zufall waren beide Kinder abgängig, die Tochter auf einer Geburtstagsparty, der Sohn bei einem Freund. Drei Stunden seltener Freiheit zu zweit, die meine Frau und ich weidlich nutzen wollten, das heißt zum Streiten. Der Streit lag schon seit Tagen in der Luft. Tagsüber kommt man ja selten dazu, sich die Meinung zu sagen, und abends ist man in der Regel zu müde. Außerdem fetzt es sich an der frischen Luft besser. Zumindest die Fenster sollten offen sein, dann haben die Nachbarn auch etwas davon. Aber lieber tun wir es gleich in Gottes freier Natur, am allerliebsten während eines Spaziergangs.

Und so lenkten wir unsere Schritte, nachdem wir den Sohn beim Freund abgeliefert hatten, aus dem Ort und ließen unsere erzürnten Stimmen über die spätherbstlich kahlen Felder hallen. In unseren Disput vertieft, gaben wir wenig acht, wohin wir gingen, stapften über einen jener langen Rücken, die sich vom Kreutwald sanft ins Tal des Rußbaches hinabziehen, bogen einmal rechts, einmal links ab und dann wieder rechts auf einen Weg, der in ein Seitental führte. Ein nordisch walkendes Paar kam uns entgegen, sonst keine Menschenseele weit und breit. Nur die zotteligen Schafe, die hier weideten, wurden Zeugen unserer Auseinandersetzung, die aber da schon auf ihr versöhnliches Ende zuging. Wir vertrugen uns - unabsichtlich, aber sinnigerweise - bei einem Steinhaufen am Wegesrand, den der Volksmund "Friedenspyramide" nennt.

Jenseits des Haufens begann für uns Neuland. Steil ging es einen lehmigen Forstweg hinab, wir querten einen Holzplatz und fanden hinter den Stößen einen verwachsenen Pfad, der in Windungen das immer enger werdende Tal hinaufführte. Diesem folgten wir mit abenteuerlichem Herzen in die Abenddämmerung hinein, die in den Wald einsickerte wie eine trübe Flüssigkeit. Eine rötliche Färbung am Himmel wies uns die Richtung. Immer steiler hinauf wand sich der Pfad, flachte schließlich ab und mündete, wie wir schon ahnten, in die Ackerfluren des Mühlratzberges. Über dessen Hochebene führt eine Straße, die wir schon oft befahren hatten, aber wie anders und fremd mutete dieser Landstrich nun an! Seine bescheidenen Konturen - Bodenwellen, Bäume, in der Ferne ein Kirchturm - verschwammen stufenweise im Abendnebel. In allem lag ein warmes Leuchten, das die untergegangene Sonne hinterlassen hatte. Es war fast windstill, vereinzelte Geräusche eines bellenden Hundes oder vorüberfahrender Autos klangen herüber und bekräftigten nur den tiefen Frieden, den die Welt zu dieser Stunde verströmte.

Dienstag, 24. November 2015

Opa war kein Bazi

Nicht nur den Schleinbacher Kindergarten zieren Herrscherporträts, auch auf dem Hauptplatz ist ein Landesvater im Bilde verewigt,  einer jedoch, der schon lange das Zeitliche gesegnet hat. Von keinem geringeren als Franz Joseph I. ist die Rede, Kaiser von Österreich und König von Ungarn, dem die Gemeinde und der Verschönerungsverein Schleinbach anno 1908 eine Büste errichtet haben.

Man sieht der Büste an, dass der Kaiser damals schon sechzig Regierungsjahre auf dem Buckel hatte. Müde schaut er unter schweren Lidern hervor, die Haare sind ihm ausgefallen, wohl vor lauter Sorgen, die ihm seine Völker und Anverwandten über die Jahrzehnte bereiteten. Doch sein Backenbart steht noch schneidig und demonstriert mit der ordensgeschmückten Brust ungebrochenen Herrschaftswillen. So sieht der alte Franz Joseph würdevoll, wenn auch etwas grünspänig und griesgrämig, von seinem hohen Sockel auf die vorbeifahrenden Autos herab oder in die leeren Fenster des ehemaligen Kaufladens vis à vis. Genau weiß man das nicht. Zwischen Sockel und Büste tut sich ein Spalt auf, der sich nach links vergrößert, so dass der Kaiser sich in leichter Schieflage befindet.

Viele, ich eingeschlossen, neigen ja dazu, den vorletzten Kaiser aus dem Hause Habsburg mit einer gewissen Milde zu beurteilen. Das mag am hohen Alter liegen, mit dem er in die Gruft gestiegen ist, oder am Vergleich zu anderen Potentaten seiner Zeit, wie etwa seinem verhinderten Thronfolger Franz Ferdinand, der ein ganz schlimmer Ungustl war, oder auch zu seinem einstmaligen Kontrahenten Bismarck. Von dem gab es in Bielefeld ein Denkmal, in dem Park, wo wir als Gymnasiasten unsere Pausen verbrachten: Massig und überlebensgroß, mit Pickelhaube und grimmigem Blick stand der "Eiserne Kanzler" im Gebüsch, und man sah ihm an, dass er seinen bronzenen Säbel am liebsten gezückt hätte, um uns Rotzlöffeln eine ordentliche Tracht Prügel zu verabreichen. Im Vergleich dazu mutet der Schleinbacher Franz Joseph geradezu großväterlich lieb an.

Kürzlich jedoch bekam ich Gelegenheit, die neue Biographie dieses Kaisers zu lesen, die Michaela und Karl Vocelka geschrieben haben, und da erfuhr ich, dass der nette Opa in seiner Jugend von ganz anderem Schlage war. Um seine Herrschaft und die seines Hauses zu retten, die nach der Revolution von 1848 bedroht schien, war ihm jedes Mittel recht. Die Revolution in Wien ließ er ebenso im Blut ertränken wie die Aufstände in Ungarn und Italien. Circa 55 000 Ungarn ließen damals ihr Leben, mehr als 200 Todesurteile wurden in seinem Namen vollstreckt, "1 765 Menschen kamen in den Kerker oder wurden öffentlich ausgepeitscht, unter ihnen auch nackte Frauen ..." Schwer vorstellbar, dass der würdige Greis, dessen Büste den Schleinbacher Hauptplatz verschönert, mit diesen Greueln etwas zu tun hatte, ja, dass er sie verantwortete. Das muss in einer anderen Zeit gewesen sein, wenn nicht in einer anderen Welt.

Sonntag, 15. November 2015

Täglich grüßt der Oberindianer

Kürzlich hat mich ein alter Freund besucht, den ich viele Jahre nicht gesehen hatte. Er zeigte sich sehr erfreut über meine Lebensumstände. Das Haus fand er annehmlich, den Garten nett verwildert und die Kinder wohlgeraten. Auch unsere dörfliche Umgebung scheint es ihm angetan zu haben, wenn sie ihm, der seit vielen Jahren in einer größeren ostdeutschen Stadt lebt, auch merkwürdig still vorkam, ja geradezu geisterhaft. Dieser Eindruck kann durchaus entstehen, wenn man an einem Vormittag unter der Woche durchs Dorf spaziert, während die Pendler außer Haus und die Kinder in der Schule sind und oft nicht mal ein Rasenmäher den ländlichen Frieden stört. Wenn man den Spaziergang dann noch ausdehnt in den angrenzenden Wald, der im Herbstlicht wie mit Gold durchwirkt erscheint, kann sich sogar das Gefühl einstellen, in einer anderen Welt zu weilen, den Zeiten enthoben.

Weil mein Freund uns für mehrere Tage beehrte, durfte er sich zwangsläufig auch in unseren Alltag integrieren, das heißt etwa den Kindern vorlesen, im Hort Laternen für den Umzug basteln helfen oder uns auf einem Besuch bei den syrischen Flüchtlingen begleiten. Er ging mit, als ich unseren Sohn vom Kindergarten abholte, und äußerte sich auch dort lobend, wie hell, sauber und freundlich alles sei. Eines aber befremdete ihn, oder genauer gesagt zwei Dinge: nämlich die Porträtfotos im Eingangsbereich. Mir fallen sie gar nicht mehr auf, so sehr habe ich mich an die beiden Bilder gewöhnt.

Wer das denn sei, wollte mein Freund wissen, und ich erklärte ihm, dass es sich bei den Herren auf den Fotos um den Präsidenten der Republik und unseren Landeshauptmann handelt. In Anzug und Krawatte, der eine mehr gestrenge, der andere etwas freundlicher dreinschauend, ruht ihr väterlicher Blick tagtäglich auf allen, die diese Kinderbetreuungseinrichtung betreten. Und nicht nur diese, denn auch in der Volksschule hängen ihre Porträts, und ich vermute, in den anderen Kindergärten und Schulen des Landes ebenso.

Als ich die Fotos nun mit den Augen meines Freundes ansah, fand ich sie auch befremdlich. Wir waren seinerzeit groß geworden, ohne die Bilder unserer bundesdeutschen Landesväter täglich vor Augen gehabt zu haben. Sowas kannte man nur aus Ostdeutschland, aus der DDR, wo das Konterfei Erich Honeckers allgegenwärtig war. Die DDR ist vor mehr als einem Vierteljahrhundert untergegangen. Aber womöglich, dachte ich, leben wir hier in einer anderen Welt, den Zeiten enthoben.

Montag, 2. November 2015

Martin Luther aß keinen Kürbis

Heute habe ich einen Kürbis entsorgt, der zwei Wochen lang von unserer Türschwelle Besuchern entgegengegrinst hatte, anfangs noch als lustiges Halloween-Gesicht mit großen Augen, Nase und Zackenmund, doch die Verwesung hatte den orangen Strahlemann erschreckend rasch in eine Fratze des Todes verwandelt, in ein Memento mori, wie kein Künstler des Barock es sich schauriger hätte ausmalen können. Das eben noch leuchtende Fruchtfleisch starrte schwarz aus dem eingefallenen Maul, die Schale verschrumpelt und mit grünlichen Flecken übersät, und die einst pralle Rundung war zu einem formlosen Haufen zusammengesunken, in dem ein Friedhofslicht verzweifelt gegen den Erstickungstod anflackerte. In diesem letalen Zustand dürfte unser Kürbis auch die Kindergrüppchen empfangen haben, die jeden Vorabend von Allerheiligen in gruseliger Gewandung und makabrer Maskerade durchs Dorf ziehen und an den Türen - unter Androhung von Saurem - nach Süßem verlangen.

Als ich nach Schleinbach zog, war mir dieser Brauch noch unbekannt gewesen. Wohl hatte es im Ostwestfalen meiner Kindheit etwas Ähnliches gegeben: das Martinssingen, bei dem ebenfalls Minderjährige in Kleingruppen von Haus zu Haus zogen und, Lieder intonierend, den Bewohnern Plastiktüten hinhielten, auf dass sie diese mit Süßigkeiten füllten. Die Lieder priesen den protestantischen Propheten Martin Luther, und ich erinnere mich, dass ich als Angehöriger der katholischen Diaspora hin und her gerissen war zwischen meinem tradierten Glauben und dem Wunsch, eine Tüte voll süßer Sachen heimzutragen. Ein bisschen beneidete ich die Kinder unserer türkischen Mitbürger, die, offenbar unangekränkelt von solchen Skrupeln, dem Schwan von Wittenberg aus voller Brust den Lobpreis sangen.

Unsere Kinder von heute haben es da einfacher. Der Slogan "Süßes oder Saures" sollte mit jeder Konfession kompatibel sein. Zwar gibt es in unserem Dorf welche, die nicht Halloween gehen dürfen - weil das "kein Brauch von uns" ist, wie mir ein Vater erklärte, sondern ein aus Übersee importierter -, aber das scheint eine verschwindende Minderheit zu sein. Auch in diesem Jahr zu "All Hallows' Eve" sah man wieder Scharen von Gespenstern, Hexen, Zombies und anderem Gelichter auf den Gehsteigen, bleich geschminkt und mit prall gefüllten Sackerln. Ich hoffe nur, sie haben sich nicht allzu sehr vor unserem verschimmelten Kürbis gegraust.

Mittwoch, 21. Oktober 2015

Main Heimat Kult

Die Historisierung der Neunziger ist ja längst in vollem Gang: 20 Jahre Tod von Kurt Cobain, 25 Jahre deutsche Einheit ... Auch das Schengener Abkommen, das 1995 in Kraft trat, ist vielleicht schon wieder Geschichte. So zumindest schien es mir, als ich vor kurzem mit dem Zug von Österreich nach Deutschland reiste und im Grenzbahnhof Passau von einer barschen Polizistenstimme aufgefordert wurde, meinen "Passport" herzuzeigen. Eine passende Episode für eine Reise in die Vergangenheit, denn auf einer solchen befand ich mich. Sie sollte mich nach Würzburg führen, wo ich Anfang der Neunziger meinen Zivildienst - auch so eine Institution, die inzwischen Geschichte ist - abgeleistet hatte und in der Folge für wenige Jahre heimisch geworden war. Ein Kollege von damals hatte mich und einen weiteren Freund eingeladen zu einer Art Seminar in Sachen Selbsthistorisierung. Zu dritt wollten wir am Main entlang, durch die Weinberge in die unterfränkische Metropole pilgern und die Stätte unseres zivilen Dienstes wieder aufsuchen: die Missionsärztliche Klinik, kurz "Missio". Freund 1 hatte auf der Chirurgie, Freund 2 auf der Inneren und ich auf der Urologie gearbeitet.

Als wir nach achtstündiger Wanderung am Samstagabend, schon nach Anbruch der Dämmerung, durch die menschenleeren Flure der Stationen schlichen, auf denen wir 15 Monate lang Betten gemacht, Patienten gewaschen, Katheterbeutel geleert und Einläufe verabreicht hatten, fühlte ich mich unbehaglich, wie jemand, der hier nichts zu suchen hatte, nicht einmal Erinnerungen. Das Gebäude war gründlich umgebaut worden. Von den Tafeln, auf denen Ärzte und Pflegerinnen sich vorstellten, lächelten fremde Gesichter. Nur bei ein, zwei Namen auf Türschildern klingelte es leise im Unterbewussten. Nachdem wir der Missio - ich hatte das Gefühl, zum allerletzten Mal - den Rücken gekehrt hatten, besichtigten wir noch das Wohnheim, in dem wir untergebracht gewesen waren, einen Fünfziger Jahre-Bau mit Treppenhaus am Eck in reizvoller Rundverglasung. Hier waren wir explizit unwillkommen: Ein Sozialarbeiter wies uns die Tür. Das Haus roch innen nach Totalsanierung, war noch halb Baustelle. Wo einst Studenten und Zivis Tür an Tür gelebt hatten, wohnten jetzt "unbegleitete minderjährige Flüchtlinge".

Später am Abend kam er dann doch noch, der Moment des Ankommens, wo ich mich in der ehemaligen Wahlheimat wieder zuhause fühlte. Wir saßen im "Kult", jeder ein Bier vor sich. Der Laden hatte sich kaum verändert, das Publikum war dasselbe geblieben, obwohl es mir jünger vorkam als vordem. Und plötzlich erkannte ich durch den Kneipenlärm den Song, der aus den Boxen schallte. Nicht etwa einen von Kurt Cobain, sondern von der altdeutschen Punkband Slime: "Ihr seid nichts als linke Spießer, eigentlich wart ihr das schon immer ..."

Samstag, 17. Oktober 2015

Nur was gleich bleibt, schaut auch was gleich

Zu den schönsten Seiten des Landlebens gehört zweifellos die Arbeit im Gemüsegarten. Auch wir haben auf unserem Grundstück einen solchen angelegt, wo wir von Äpfeln bis Zucchini allerlei anbauen. Irgendwann genügten mir die Erträge jedoch nicht mehr und ich wandte mich an einen Bekannten, seines Zeichens der letzte Vollerwerbsbauer unseres Dorfes und ein netter Kerl: ob er nicht einen kleinen Acker in Ortsnähe wisse, den ich kaufen oder pachten könnte?

Der Bauer meinte nach kurzem Nachdenken, ja, er hätte da einen Fleck von vier oder fünf Ar, also grad das Richtige für mich, zudem nur einen Katzensprung von unserem Haus entfernt. Er habe diesen Grund seit je von einer alten Frau gepachtet, sei es aber leid, ihn zu beackern, weil der Traktor kaum darauf wenden könne, er würde daher die Eigentümerin fragen, ob sie ihn mir verpachte. Diese Frau sei aber etwas eigen, fügte er hinzu, in ihrem Haus sehe es aus wie vor hundert Jahren und sie lebe allein und abgeschieden.

Sogleich wusste ich, wen er meinte. Ab und an sah man sie auf der Straße, eine kleine Frau, auf einem klapprigen Damenrad zur Kirche fahrend oder eine altertümliche hölzerne Schubkarre voll Heu schiebend, den Kopf stets in ein Tuch gehüllt. Es wäre mir nie eingefallen, mit ihr ins Geschäft zu kommen, aber ich hoffte auf meinen Bekannten, der einer alteingesessenen Familie entstammte - und prompt Erfolg vermeldete.

Tags darauf traf ich die Frau zufällig auf der Straße und stellte mich als ihren zukünftigen Pächter vor. Sie aber schaute gequält zu mir auf, druckste herum, sie habe die ganze Nacht nicht geschlafen, denn im Grunde sei ihr das alles gar nicht recht. Ich fiel aus allen Wolken. Aber wieso denn? - Nun, ich sei ein Fremder, wer könne denn wissen, ob ich nicht nächstes Jahr wieder fort sei? Außerdem bräuchte ich gar keinen Acker, gewiss sei ich damit überfordert.

Ich versuchte, ihre Einwände zu entkräften, indem ich erklärte, wir hätten uns hier häuslich niedergelassen, kehrte meine jahrelange Erfahrung im Gemüseanbau heraus, bot ihr mehr Geld an, und als auch das nicht half, argumentierte ich, sie würde überhaupt nichts riskieren, denn selbst wenn ich nichts Gescheites zustandebrächte oder mich gar vom Acker machte, könne sie ihn doch jederzeit wieder dem Bauer geben ...

Die alte Frau sah mich flehend an, ich möchte ihr bitte nicht bös sein, aber sie traue nun einmal keinem Fremden. Es seien eh schon so viele Fremde im Ort, nichts sei mehr wie früher. Da begriff ich: Wenigstens ihr kleines Feld sollte bleiben, wie es ist, denn - erklärte sie mir - "so schaut es immerhin was gleich".

Dienstag, 6. Oktober 2015

Flieger, grüß mir die Sonne

Gleich in der Früh, das Sechs-Uhr-Läuten war kaum verklungen, kam das erste Flugzeug des Tages. Der Düsenlärm drang durch den Spalt des geöffneten Fensters ins Schlafzimmer, machte sich dort breit, schwoll rasch an zu einem Dröhnen, einem Heulen, das einen Moment lang die Welt erfüllte und sich dann langsam entfernte, langsam, das heißt nicht schnell genug, um der Stille wieder Raum zu geben, denn die nächste Maschine war bereits lautstark im Anflug. Von da an folgte eine der anderen, wie Welle auf Welle an ein Gestade brandet, und wir wussten, heute weht der Wind aus Südosten. Nur bei Südostwind fliegen sie den Flughafen Schwechat, der mehr als eine Autostunde entfernt auf der anderen Seite der Hauptstadt liegt, über unseren Ort hinweg an und liegen da bereits so niedrig in der Luft, dass man vom Boden aus mit bloßem Auge ihre Fahrwerke erkennen kann. Vorausgesetzt, die Luft ist klar, was sie heute vermutlich nicht sein würde - auch das konnten wir, ohne aus dem noch verhangenen Fenster zu schauen, allein dem Fluglärm abhören, weil der lauter schien als sonst: ein Indiz für hohe Luftfeuchtigkeit und damit für den Nebel, der sich im Herbst irgendwann so zäh über dieses Land legt, dass er sich wochenlang nicht hebt. Die ersten Herbstnebel sind noch zart und mild, Weichzeichner der Landschaft, sind bloß Vorboten, die sich schon am Vormittag höflich zurückziehen angesichts einer immer noch mächtigen Sonne. Doch inzwischen leben wir lange genug hier, um zu wissen, dass die Sonne über kurz oder lang vor dem Nebel kapitulieren wird. Sie steigt dann nicht mehr hoch genug, die Lufttemperaturen sind zu niedrig, die Tage zu kurz, und der Nebel bleibt über den ganzen Tag, den nächsten auch und den nächsten, Tag für Tag Nebel, der sich grau und schwer auf das Land legt. Die, die immer schon hier leben, zucken mit den Achseln und sagen, das Graue mache ihnen nichts aus, das sei eben so. Doch mich, der ich im regnerischen Nordwestdeutschland aufgewachsen und vom Wetter weiß Gott nicht verwöhnt bin, mich macht der Nebel schwermutig und traurig, ich sehne mich nach Sonne oder wenigstens nach Sturm oder Regen - nach atmosphärischer Abwechslung. Und meine Gedanken ziehen mit den unsichtbaren, unüberhörbaren Aluminiumvögeln, die irgendwo da oben, dem Dunst enthoben, sonnigeren Gefilden entgegenfliehen.

Freitag, 2. Oktober 2015

Ohne Steireranzug bist bloßhapat

Mit uns Zug'rasten ist es ja entweder so oder so. Entweder wir wollen uns gar nicht integrieren, sondern möglichst unter uns bleiben. Oder wir gehören zu den Ehrgeizlingen, den Strebern, die einheimischer als die Einheimischen sein wollen. Ich gehöre tendenziell eher zur zweiten Kategorie, wobei ich schon bald nach meiner Niederlassung in Schleinbach einsehen musste, dass Natur und Partnerwahl meinem Anpassungsstreben unüberwindliche Grenzen gezogen hatten. Schon allein wegen der Sprache. So sehr ich mich auch bemühe, die regionale Phonetik nachzuahmen, mit meiner potscherten Zunge kommt nix G'scheits dabei herum. Sobald ich die Goschn aufsperre, hört jeder sofort den Piefke. Meiner Frau ist das jedesmal urpeinlich. Genauso wie sie kategorisch dagegen ist, dass ich mir einen Steireranzug kaufe. Als ich es einmal erwog, erklärte sie umstandlos, so ein Anzug sei ein Scheidungsgrund. Vielleicht hat sie recht, nicht nur vom ästhetischen Standpunkt her, sondern auch wegen der Gefahr gesellschaftlicher Missverständnisse. Ist doch der Steireranzug - oder genauer gesagt seine niederösterreichische Variante - die Berufskleidung der Landespolitiker und somit eines Standes, dem ich augenscheinlich nicht angehöre und wohl auch niemals angehören werde, allein schon deshalb, weil ich in der wärmeren Jahreszeit gern auf Schuhwerk verzichte und bloßhapat durchs Dorf gehe. Begonnen hatte ich damit auf Anraten unserer Ärztin, die meinte, der Spreiz-Senk-Fuß meines damals dreijährigen Sohnes wäre auf diesem Wege kostenneutral zu kurieren, und als der Bui sich zierte, glaubte der Vater mit gutem Beispiel, also barfüßig, vorangehen zu müssen. Bald fanden meine Füße solches Vergnügen daran, dass sie nur noch selten in Schuhen das Haus verließen. Hätte ich gewusst, wieviel Aufsehen ich damit in unserem Ort errege, ich hätte sie schon viel früher ausgezogen! Denn wenig hat mehr zu meiner Integration beigetragen als meine nackerten Haxen. Einen Sommer lang boten sie reichlichen Gesprächsstoff. Sogar Leute, die ich bis dahin nicht gekannt hatte, redeten mich auf der Straße an, um ihr Befremden kundzutun, das aber oft eine große Portion Respekt vor meiner Hornhaut enthielt, wie sie mir wohl kaum je ein Steireranzug verschafft hätte. Außerdem wer weiß, sonst hätte ich vielleicht niemals das schöne Wort "bloßhapat" gelernt.

Mittwoch, 23. September 2015

Frösche am Nordpol

Schl-e-i-n-bach, mit Emil, Ida, Nordpol in der Mitte. Ein Ort in Niederösterreich, von Wien vierzig Minuten mit der Schnellbahn nach Norden. Gut 1000 Einwohner der Species Homo sapiens hausen hier, dazu etliche Vierbeiner und anderes kreuchendes und fleuchendes Getier, zum Beispiel Frösche. Frösche, oder vielmehr ihre Gesänge, sind für mich mit Schleinbach untrennbar verbunden. Das kommt daher, dass einer unser Nachbarn ein Feuchtbiotop unterhält mit einer stattlichen Population dieser oft aufgeblasenen Amphibien; die wiederum uns unterhalten in den lauen Nächten des Frühsommers. Meine erste Schleinbacher Nacht, vor mehr als zehn Jahren, war eine solche lau(t)e. Klara und ich schliefen bei weit geöffneten Fenstern im "Stüberl", einem holzgetäfelten Verschlag im Hof, weil die Innenwände des von der Oma ererbten Häuschens nach Farbe stanken, und als ich irgendwann in der Nacht wach wurde, hörte ich sie quaken, die Frösche. Ich trat vor die Tür. Über mir, zwischen Fliederwipfeln und Nussbaumgeäst, glitzerte ein Meer von Sternen, namenlos fast alle, denn der bisherige Stadtbewohner hatte sie selten gesehen, und vom Bach herüber dröhnte der Froschgesang (dass die Lurche in Nachbars Teich wohnhaft sind, wusste ich damals noch nicht). Seither muss ich jedes Frühjahr, wenn sie wieder loslegen, an meine ersten Wochen in Schleinbach denken und an dieses beglückende Gefühl, in einer Idylle gelandet zu sein, wo die Frösche dir nächtens ein Ständchen bringen. Erst nach einer Weile erfuhr ich von der Frau, die dann bald meine Lieblingsnachbarin werden sollte, dass die langschenkligen Sangesbrüder nicht immer da gewesen waren, sondern erst seit wenigen Jahren, seit der Nachbar vom anderen Bachufer sein Feuchtbiotop angelegt hatte. Der Lieblingsnachbarin war der neumodische Froschgesang ein Greuel im Ohr, ein zum Himmel schreiendes Ärgernis, das ihre Nachtruhe störte. Nicht so für mich. Für mich gehörten die Frösche von Anfang an zu meinem neuen Wohnort. Und sollte ich eines Tages aus Schleinbach fortziehen - aus Schleinbach mit Emil, Ida, Nordpol -, dann werde ich sie gewiss vermissen, die nächtlichen Rufe nachbarlicher Unken.