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Mittwoch, 21. Oktober 2015

Main Heimat Kult

Die Historisierung der Neunziger ist ja längst in vollem Gang: 20 Jahre Tod von Kurt Cobain, 25 Jahre deutsche Einheit ... Auch das Schengener Abkommen, das 1995 in Kraft trat, ist vielleicht schon wieder Geschichte. So zumindest schien es mir, als ich vor kurzem mit dem Zug von Österreich nach Deutschland reiste und im Grenzbahnhof Passau von einer barschen Polizistenstimme aufgefordert wurde, meinen "Passport" herzuzeigen. Eine passende Episode für eine Reise in die Vergangenheit, denn auf einer solchen befand ich mich. Sie sollte mich nach Würzburg führen, wo ich Anfang der Neunziger meinen Zivildienst - auch so eine Institution, die inzwischen Geschichte ist - abgeleistet hatte und in der Folge für wenige Jahre heimisch geworden war. Ein Kollege von damals hatte mich und einen weiteren Freund eingeladen zu einer Art Seminar in Sachen Selbsthistorisierung. Zu dritt wollten wir am Main entlang, durch die Weinberge in die unterfränkische Metropole pilgern und die Stätte unseres zivilen Dienstes wieder aufsuchen: die Missionsärztliche Klinik, kurz "Missio". Freund 1 hatte auf der Chirurgie, Freund 2 auf der Inneren und ich auf der Urologie gearbeitet.

Als wir nach achtstündiger Wanderung am Samstagabend, schon nach Anbruch der Dämmerung, durch die menschenleeren Flure der Stationen schlichen, auf denen wir 15 Monate lang Betten gemacht, Patienten gewaschen, Katheterbeutel geleert und Einläufe verabreicht hatten, fühlte ich mich unbehaglich, wie jemand, der hier nichts zu suchen hatte, nicht einmal Erinnerungen. Das Gebäude war gründlich umgebaut worden. Von den Tafeln, auf denen Ärzte und Pflegerinnen sich vorstellten, lächelten fremde Gesichter. Nur bei ein, zwei Namen auf Türschildern klingelte es leise im Unterbewussten. Nachdem wir der Missio - ich hatte das Gefühl, zum allerletzten Mal - den Rücken gekehrt hatten, besichtigten wir noch das Wohnheim, in dem wir untergebracht gewesen waren, einen Fünfziger Jahre-Bau mit Treppenhaus am Eck in reizvoller Rundverglasung. Hier waren wir explizit unwillkommen: Ein Sozialarbeiter wies uns die Tür. Das Haus roch innen nach Totalsanierung, war noch halb Baustelle. Wo einst Studenten und Zivis Tür an Tür gelebt hatten, wohnten jetzt "unbegleitete minderjährige Flüchtlinge".

Später am Abend kam er dann doch noch, der Moment des Ankommens, wo ich mich in der ehemaligen Wahlheimat wieder zuhause fühlte. Wir saßen im "Kult", jeder ein Bier vor sich. Der Laden hatte sich kaum verändert, das Publikum war dasselbe geblieben, obwohl es mir jünger vorkam als vordem. Und plötzlich erkannte ich durch den Kneipenlärm den Song, der aus den Boxen schallte. Nicht etwa einen von Kurt Cobain, sondern von der altdeutschen Punkband Slime: "Ihr seid nichts als linke Spießer, eigentlich wart ihr das schon immer ..."

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