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Dienstag, 24. November 2015

Opa war kein Bazi

Nicht nur den Schleinbacher Kindergarten zieren Herrscherporträts, auch auf dem Hauptplatz ist ein Landesvater im Bilde verewigt,  einer jedoch, der schon lange das Zeitliche gesegnet hat. Von keinem geringeren als Franz Joseph I. ist die Rede, Kaiser von Österreich und König von Ungarn, dem die Gemeinde und der Verschönerungsverein Schleinbach anno 1908 eine Büste errichtet haben.

Man sieht der Büste an, dass der Kaiser damals schon sechzig Regierungsjahre auf dem Buckel hatte. Müde schaut er unter schweren Lidern hervor, die Haare sind ihm ausgefallen, wohl vor lauter Sorgen, die ihm seine Völker und Anverwandten über die Jahrzehnte bereiteten. Doch sein Backenbart steht noch schneidig und demonstriert mit der ordensgeschmückten Brust ungebrochenen Herrschaftswillen. So sieht der alte Franz Joseph würdevoll, wenn auch etwas grünspänig und griesgrämig, von seinem hohen Sockel auf die vorbeifahrenden Autos herab oder in die leeren Fenster des ehemaligen Kaufladens vis à vis. Genau weiß man das nicht. Zwischen Sockel und Büste tut sich ein Spalt auf, der sich nach links vergrößert, so dass der Kaiser sich in leichter Schieflage befindet.

Viele, ich eingeschlossen, neigen ja dazu, den vorletzten Kaiser aus dem Hause Habsburg mit einer gewissen Milde zu beurteilen. Das mag am hohen Alter liegen, mit dem er in die Gruft gestiegen ist, oder am Vergleich zu anderen Potentaten seiner Zeit, wie etwa seinem verhinderten Thronfolger Franz Ferdinand, der ein ganz schlimmer Ungustl war, oder auch zu seinem einstmaligen Kontrahenten Bismarck. Von dem gab es in Bielefeld ein Denkmal, in dem Park, wo wir als Gymnasiasten unsere Pausen verbrachten: Massig und überlebensgroß, mit Pickelhaube und grimmigem Blick stand der "Eiserne Kanzler" im Gebüsch, und man sah ihm an, dass er seinen bronzenen Säbel am liebsten gezückt hätte, um uns Rotzlöffeln eine ordentliche Tracht Prügel zu verabreichen. Im Vergleich dazu mutet der Schleinbacher Franz Joseph geradezu großväterlich lieb an.

Kürzlich jedoch bekam ich Gelegenheit, die neue Biographie dieses Kaisers zu lesen, die Michaela und Karl Vocelka geschrieben haben, und da erfuhr ich, dass der nette Opa in seiner Jugend von ganz anderem Schlage war. Um seine Herrschaft und die seines Hauses zu retten, die nach der Revolution von 1848 bedroht schien, war ihm jedes Mittel recht. Die Revolution in Wien ließ er ebenso im Blut ertränken wie die Aufstände in Ungarn und Italien. Circa 55 000 Ungarn ließen damals ihr Leben, mehr als 200 Todesurteile wurden in seinem Namen vollstreckt, "1 765 Menschen kamen in den Kerker oder wurden öffentlich ausgepeitscht, unter ihnen auch nackte Frauen ..." Schwer vorstellbar, dass der würdige Greis, dessen Büste den Schleinbacher Hauptplatz verschönert, mit diesen Greueln etwas zu tun hatte, ja, dass er sie verantwortete. Das muss in einer anderen Zeit gewesen sein, wenn nicht in einer anderen Welt.

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